Es gibt wohl keinen Tag auf Erden ohne Krieg. Offensichtlich lernt der Mensch nicht aus der Geschichte. Leider!
Die Fratze des Krieges mag immer eine andere sein, doch sie hinterlässt tiefe Narben, sichtbare und unsichtbare. Der größte Feind des Menschen schlägt überall auf der Welt zu, manchmal sucht er Orte sogar erneut auf. Die Gründe mögen vielschichtig sein, was am Ende der Verwüstung bleibt, sind Risse in der Seele derer, die dem Ungeheuer ins Auge sahen. Der Geruch, die Gestalt und die Geräusche der schäbigsten Geißel der Menschheit mag immer anders sein, was bleibt sind die fliehenden Menschen, die nur noch das nackte Leben und den Überlebenswillen besitzen. Vermutlich haben fast alle jemanden in der Verwandtschaft, der schon mal fliehen musste.
Mein Opa floh als Kind vor der Kleinasiatischen Katastrophe.
Krieg wiederholt sich. Leider! Die Schicksale jener, die vor ihm davonlaufen mussten, sollten nie vergessen werden und uns ermahnen.
Der Tag, an dem Charos sein Leben tauschte.
Gewitter zogen über das Schwarze Meer und tauchten es in eine nie dagewesene Finsternis. Die vom Horizont herab rasenden Blitze hinterließen silbrige Lichter auf den tosenden Wellen, als hätte sie jemand poliert wie die edlen Silberkelche in den Vitrinen des Topkapi-Palastes. Es schien, als würde die Welt untergehen, zum zweiten Mal nach 1453. Der Krieg zwischen Griechen und Osmanen forderte unzählige Opfer, auf beiden Seiten. Charos, der grantige Fährmann, hockte zwischen Felsspalten wie einst die Pythia von Delphi und wartete dort auf den Orakelspruch, der ihm das Ende der Katastrophe prophezeien könnte, aber nicht eine Silbe fand den Weg hinauf zum Licht. An manchen Tagen verweilte er verzweifelt auf den Schindeln eines Daches neben dem rauchenden Kaminrohr. Er liebte diesen Geruch von Kaminholz, wenn es knisternd verbrennt. Dann hob er seine knochigen Hände und hielt über die Welt Ausschau bis hinüber zum Weißen Meer, ob sich irgendwo am Horizont das Licht zeigen würde, welches das Ende dieser Apokalypse ankündigen würde. Aber so oft er auch auf den roten Dächern der Pontosgriechen kauerte, es gab keine Zeichen.
Sein ganzes Leben (und das waren viele Menschenleben) sorgte er dafür, dass die Verstorbenen ins Totenreich hinüber segeln konnten. Der Fährmann kannte nichts anderes. Er hatte weder Familie, noch eine Frau oder Kinder; er wandelte umher und spürte die Toten auf, die er mit ihrem Obolus unter der Zunge zu ihrer letzten Stätte brachte. Dabei war er oft ruppig und schroff, an manchen Tagen stieß er sie und trieb seine Fährgäste mit dem Stock von Bord. Manche ertrugen ihr Schicksal still, manche wütend, manche schreiend und manche musste er von seiner Barke prügeln. Diese verstanden offensichtlich nicht, dass sie ihrem Schicksal nicht mehr entkommen konnten, wenn sie erst einmal sein Fährgast waren.
An dem Tag des großen Brandes kam seine Welt, die irgendwo zu finden war zwischen der Wirklichkeit und dem Totenreich, ins Wanken. Zunächst aufgekeimt in den Tiefen seiner Seele, die er bis dahin gar nicht zu haben schien, spürte er dieses Gefühl von Tag zu Tag mehr, es fraß sich durch seine müden Knochen: Mitleid. In all den vielen Jahren hatte es nicht so viele Tote gegeben. Charos wurde seiner Berufung überdrüssig und stellte sich jede Nacht erneut die Frage nach dem Warum!
Der Sensenmann hatte keinen Nachfolger, das wusste er von Anbeginn seiner Zeit. Nur er war es, der sich um das Leid dieser und der nächsten und übernächsten Welt kümmern musste, das machte ihn einzigartig. Seine Unsterblichkeit, die er früher mit Würde trug, wurde ihm seit dem Brand zum Fluch, den er nicht abschütteln konnte.
Manche dieser furchtbaren Tage waren derart von Blut getränkt, dass er bis zum Knöchel darin stand, wenn er seine Barke belud. Der Beutel mit den Charosspfenningen für die letzte Todesfahrt wurde immer schwerer und schwerer, so dass er bei manch einer Fahrt auf den Obolus verzichtete. Die Fahrten, die er stets im Stehen durchführte, wurden ihm zur Qual, all der Gestank, all die klaffenden Verletzungen und was ihm besonders zu schaffen machte, dass es so viele junge Menschen waren, welche mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen seine Passagiere wurden.
Der Tag, an dem Smyrna brannte und unzählige unbestattete Tote die Erde bedeckten, dass man sie nicht mehr sah, wurde zum Wendepunkt für den Fährmann. Seine Kraft in den Armen ließ nach, seine Barke lag tief wie nie in den Fluten des Acherons und er drohte mitsamt seiner Fracht ins Meer zu stürzen, bevor er den Eingang zum Acheron überhaupt erreicht hatte. So viele leblose Körper übereinandergestapelt wie tote Fische vom letzten Fischfang, die noch ein letztes Mal zappelten, hatte er niemals zuvor hinübergefahren.
Sobald die blumenlosen Ufer der Totenwelt in Sichtweite gelangten, ertönten die schrillen Stimmen der wartenden Schatten, denn Unbestattete mussten 100 Jahre an den Ufern ausharren, um ins Totenreich zu gelangen. Wie zu einem Chor der Sirenen vereint dröhnte ihr Gesang an das Ohr von Charos, der diesen nicht mehr ertragen konnte. Die einstige Stille, die von diesem Ort ausging, hatte sich aufgelöst im dampfenden Nebel der Namenlosen.
„Es reicht! Es reicht! Es reicht! Es gibt keinen Platz mehr! Schaff sie fort! Schaff sie fort!“
Der Fährmann starrte hinüber zu den längst überladenen Ufern und warf allabendlich mit letzter Kraft die Leblosen hinüber an die Ufer. Der Acheron färbte sich blutrot. Zum ersten Mal!
Nach dem Tageswerk lief Charos durch die Fluten des Meeres, um das Blut an seinen Füßen los zu werden, anschließend lenzte er dieses weinend aus seiner Barke.
Früher war er mit Freude über die Erde gewandelt, doch inzwischen war ihm diese vergangen, denn all das Leid, welches sich die Menschen gegenseitig zufügten, nahm kein Ende. So kam es, dass er mit seinem schwarzen Schifferkittel und seiner Mütze, die er sich tief ins Gesicht zog, über die Berge wanderte, um niemandem zu begegnen, die Menschen ödeten ihn an.
Am morgigen Tag stand ihm noch einiges bevor, von dem er nicht wusste, wie er es bewältigen sollte. Kummer und Trauer überfielen ihn, die so gewaltig über ihn hereinbrachen, dass er sich das Leben nehmen wollte, indem er vom Olymp in die Tiefe sprang. Er schien vergessen zu haben, dass er unsterblich war. Nachdem dies nicht gelang, lief er schwankend zum gegenüberliegenden Meer, befestigte Gewichte an seinen Füßen und schwamm hinaus in der Hoffnung, er würde in die Tiefen gezogen werden. Doch auch das missglückte. In seiner Verzweiflung rief er seine Eltern Nyx und Erebos, die Nacht und die Finsternis. Doch auch sie schüttelten den Kopf, es gab kein Entrinnen vor seiner Unsterblichkeit.
Bei der letzten Fahrt am nun folgenden Tag steuerte der Fährmann seine Barke durch die krachenden Wellen, die sich teilweise über seinem Kopf zusammenschlugen. Mit viel Kraft ruderte er ans Ufer der Schatten, die abermals den Chor anstimmten. Seine Ohren drohten zu bersten, während er seine Fracht ablud. So band er sich erschöpft ein Tuch um seine Ohren, um das Gekreische nicht wahrnehmen zu müssen.
Er beeilte sich, mit seiner leeren Barke zurück ans Tageslicht zu rudern, aber dort fand er auch nur Elend vor. Als der Fährmann niedergeschlagen am Heck seines Bootes hockte, erkannte er die Leiche eines Burschen auf den Planken, er hatte ihn wohl übersehen.
„Wer bist du?“ Rüttelte er an dem Jungen.
„Wo bin ich?“
„Auf dem Weg ins Totenreich.“
„Bin ich allein?“
„Nein, die anderen habe ich schon fortgebracht.“
„Und wo ist Sophia?“
„Ich frage niemand auf seiner letzten Reise nach seinem Namen, mein Junge. Wer ist Sophia?“
„Meine Liebste. Sie gab mir die Münze in letzter Minute mit auf den Weg, dann erwischte mich die Kugel, die mich tötete.“
„Dann ist sie noch auf der Erde und hat es überlebt.“
„Ist der Obolus für dich?“
„Ja, ich bin der Fährmann, der dich hinüber segelt.“
„Mein Name ist Herakles. Meine Mutter gab mir den Namen, weil sie die Legenden rund um Herakles schätzt und besonders jene, als er in der Unterwelt den Kerberos stiehlt. Die letzte und schwerste seiner zwölf Aufgaben war damit erledigt.“
„Ich erinnere mich. Allerdings brachte Herakles ihn auch wieder zurück. Herakles war der einzig Lebende, den ich jemals hinabgefahren habe. Dafür wurde ich allerdings auch bitter bestraft, ein Jahr musste ich in Ketten verbringen.“
Die Barke mit nur einem Gast quälte sich über die peitschenden Wellen, Stille schlug den beiden aus der Finsternis entgegen, Totenstille. Immer wieder strömten Wassertropfen auf das Haupt des Jungen, der sich krampfhaft am Bootsrand festhielt.
„Du bist schon tot, mein Junge. Habe daher keine Sorge, dir können die Wellen nichts mehr anhaben.“
Erschrocken schaute Herakles hinüber zu Charos, dem ein Lächeln über den Mund huschte.
„Wann kommt Sophia hierher?“
„Das weiß ich nicht und das liegt auch nicht in meiner Macht. Wenn ihre Stunde geschlagen hat, hole ich sie, nicht eher.“
Der Junge grübelte, er weinte.
„Kannst du nicht eine Ausnahme machen und mich wieder hinauf segeln?“
Nun brach Charos in ein breites Gelächter aus, welches durch die Totenstille hallte wie ein Echo.
„Nein, das geht nicht. Aber ich könnte dir einen Vorschlag unterbreiten.“
Charos hielt sein Boot an, legte das Ruder zur Seite und setzte sich neben den Burschen. Er legte seinen Arm um ihn, auch das tat er niemals zuvor, denn er hasste den Geruch von Menschen.
„Sieh mal, Herakles, wenn ich dich an den Ufern des Todes übergebe an die Schatten der wartenden Toten, wirst du dort ausharren müssen, bis Sophia herkommt. Das kann morgen sein, dass kann übermorgen sein oder gar in 80 Jahren.“
„Dann warte ich so lange auf sie.“
Charos schaute finster drein, seine sonst so leuchtenden Augen lagen mit einem Schatten in den Tiefen seines Schädels, die Adern traten an den Seiten hervor, als würde sein Kopf platzen.
„Wenn Sophia in 80 Jahren bei dir ist, wird sie dich nicht mehr erkennen. Ab heute alterst du nicht mehr. Ewige Jugend wird dir beschert sein. Deine Liebste wird alt, grau, faltig und bockig wie eine Ziege sein. Und vielleicht, ja vielleicht, wird sie heiraten und dann?“
Der Jüngling kam ins Grübeln, Charos Worte hatten ihr Ziel erreicht.
„Gibt es denn gar keinen Ausweg?“
„Nun. Einen Ausweg gibt es immer.“
„Und der wäre?“
„Ich gebe dir mein Leben. Dann kannst du umherwandeln unter den Menschen und kannst Sophia zusehen, wie das Leben vergeht. Jeden Tag, wann immer du willst. Sie wird dich nicht sehen können, nicht riechen, nicht berühren, da du unsichtbar sein wirst, aber du kannst sie anschauen und du wirst den Tag miterleben, an dem sie ihr Leben aushaucht. Du fährst sie hinüber und darfst ab jenem Tag mit ihr durch die Unterwelt spazieren.“
„Das klingt verlockend. Und welches Los ist ab diesem Tausch für dich bestimmt?“
„Nun, ich bin müde und obwohl ich nicht altere, sehe ich fad und scheußlich aus, die Kriege dort oben haben mich zermürbt. Die Menschen haben nichts dazugelernt, sie werden es auch niemals. Ich bleibe statt deiner hier und entlasse dich als neuen Fährmann in die lebende Welt. Die Stille, die nicht heimgesucht wird von Kriegsgeschrei und Wehklagen der Mütter um ihre Söhne wird mich zur Ruhe kommen lassen. Ich bin einfach todessüchtig. Ich bitte dich, nimm diesen Tausch an und befreie mich von dem Weltunheil, dessen Anblick mir zuwider geworden ist.“
„Wenn ich Sophia jeden Tag sehen kann, ist es sehr verlockend, den Handel mit dir einzugehen. Was gibt es für mich Schlimmeres, als so viele Jahre auf sie warten zu müssen, ohne in ihr schönes Gesicht zu blicken?“
„Für dich entsteht kein Nachteil. Ich schenke dir Unsterblichkeit. Dein Name wird in aller Munde sein.“
Der Junge überlegte nicht lang und schlug ein. Die Winde und Wellen hielten einen Moment den Atem an, während Charos seine Hände in die von Herakles legte, die Augen schloss und den letzten Atemzug als Unsterblicher in die Dunkelheit sandte. Den Obolus, den er kurz vorher von seinem letzten Passagier erhalten hatte, gab er Herakles mit leuchtenden Augen zurück.
„Und nun fahre mich hinab in die Finsternis, damit ich leben kann.“